Familie Windesheim

Klosterstraße 3

Die Familie Windesheim blickt auf eine lange Geschichte in Unna zurück. Spätestens seit 1858 lebte Nathan Windesheim, der 1826 in Hovestadt (Kreis Soest) geboren wurde, mit seiner Familie in Unna. Seine Ehefrau Rosalie geb. Heymann kam 1825 in Kamen zur Welt. Nathan betrieb wie bereits sein Vater Meier eine Metzgerei und Viehhandlung. 1874 war er Vorstandsmitglied der Jüdischen Gemeinde Unna. Als Rosalie am 12. Januar 1890 starb, wohnte die Familie Windesheim wie auch in den nachfolgenden Jahrzehnten in unmittelbarer Nähe zur Synagoge im Haus Klosterwall 28, der ehemaligen Scheune des einstigen Augustinerinnen-Klosters St. Barbara. Nathan Windesheim starb am 13. November 1893 und wurde wie zuvor seine Frau auf dem jüdischen Friedhof beigesetzt.1

Von den vier Kindern des Paares, die das Erwachsenenalter erreichten, blieb nur der am 31. Mai 1864 geborene Sohn Moritz in Unna.2 Wie schon sein Vater und Großvater war Moritz als Metzger tätig und lebte im elterlichen Haus am Klosterwall 28. Am 2. September 1890 heiratete er in Dortmund-Berghofen Henriette Selig, die am 17. April 1860 in Kamen zur Welt gekommen war. Moritz engagierte sich in der jüdischen Gemeinde und war in den 1920er Jahren Vorsteher ihrer Repräsentantenversammlung. Henriette und Moritz hatten drei Kinder, Rosa, Otto und Anna.

 

Ihre Tochter Rosa wurde am 5. August 1891 geboren. Als Siebzehnjährige lebte Rosa für ein Jahr in Detmold und wurde in ihrer Meldekartei als „Pensionärin“ registriert. Den in einem Pensionat lebenden jungen Frauen wurden neben hauswirtschaftlichen Fähigkeiten gesellschaftliche Umgangsformen vermittelt. Ebenso erhielten sie Einblicke in das kulturelle Leben und in wissenschaftliche Themengebiete. Am 12. Juni 1914 heiratete Rosa in Unna den am 2. August 1881 in Stolzenau an der Weser geborenen Kaufmann Gustav Löwenstein und lebte fortan mit ihm in Köln. Am 22. Dezember 1915 erblickte dort ihr Sohn Hans Otto das Licht der Welt. Ihre Tochter Hannelore wurde am 27. Juni 1919 geboren. Gemeinsam mit ihrem Mann betrieb Rosa in der Severinstraße 124 ein Haushaltswarengeschäft.

Nathan und Rosalies Sohn Otto kam am 1. März 1893 in Unna zu Welt. In seiner Meldekarte ist vermerkt, dass er am 18. April 1911 nach Dortmund verzog, er ist zu diesem Zeitpunkt ledig und wird als Kaufmann bezeichnet. Nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs meldete sich Otto freiwillig zum Fronteinsatz. Mit 21 Jahren starb er als Soldat der 12. Kompanie des Infanterie-Regiments Nr. 16 am 26. Oktober 1914 bei Neuve-Chapelle in Nordfrankreich nahe Lille.

Anna, die jüngste Tochter von Henriette und Moritz Windesheim, wurde am 19. Juni 1896 in Unna geboren. Im Alter von 26 Jahren heiratete sie am 17. März 1923 in Unna Moritz Nethe. Moritz, der am 17. Januar 1883 in Brakel (Kreis Höxter) geboren war, lebte in Köln und führte dort einen Installateur- und Dachdeckerbetrieb. Anna zog zu ihrem Mann nach Köln, wo sie am 14. Dezember 1923 ihren Sohn Alfred Robert zur Welt brachte. Der zweite Sohn, Rudolf, folgte am 24. Mai 1926.

Schon bald nach der Geburt ihres Enkelkindes Robert zogen Moritz und Henriette Windesheim am 14. März 1924 von Unna nach Köln in das Haus Vorgebirgsstraße 35, das in der Nähe des Hauses ihre Tochter Anna lag. Bereits am 1. April 1927 kehrten Moritz und Henriette nach Unna zurück und lebten fortan in der Klosterstraße 3. Moritz wird nun als Viehhändler genannt. Wie aus den Adressbüchern hervorgeht, wurde das Haus am Klosterwall 28, das seit Jahrzehnten den Lebensmittelpunkt der Windesheims gebildet hatte, zwischen 1927 und 1930 verkauft. Ab dem Jahr 1935 sind Moritz und Henriette Windesheim wieder in den Kölner Adressbüchern zu finden. Sie zogen wieder in die Vorgebirgsstraße 35, wo nun auch ihre ältere Tochter Rosa mit ihrer Familie lebte. Vermutlich suchten die inzwischen hochbetagten Windesheims, unter dem Eindruck der seit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten zunehmenden Verfolgung, die Nähe ihrer Angehörigen.

Welchen Anfeindungen und Verfolgungsmaßnahmen die Familie Windesheim nach 1933 in Köln persönlich ausgesetzt war, ist nicht näher bekannt. Da kein Familienmitglied das Morden des NS-Regimes überlebte, existieren keine Berichte, keine Familienbilder, stattdessen nur spärliche amtliche Unterlagen.

Am 30. Oktober 1941 wurde die Enkelin von Moritz und Henriette Windesheim, Hannelore Löwenstein, im Alter von 22 Jahren in das Ghetto Litzmannstadt (Łódź) deportiert. Im Mai 1942 folgte ihre Deportation in die Tötungsstätte Kulmhof (Chełmno), einem Dorf 70 Kilometer westlich von Łódź. Dort wurde sie noch im selben Monat ermordet.

Mit dem 977 Menschen umfassenden Transport vom 7. Dezember 1941 wurden Anna und Moritz Nethe gemeinsam mit ihren Söhnen Alfred Robert und Rudolf von Köln in das Ghetto Riga deportiert. Der aus Marl stammende Rolf Abrahamsohn lernte Moritz Nethe im Ghetto kennen und berichtete in seinen Erinnerungen, dass Moritz im technischen Dienst des Ghettos eingesetzt worden sei und er von ihm die Klempnerei erlernt habe.3 Am 9. August 1944 wurde die Familie Nethe im KZ Stutthof bei Danzig interniert. Dort starb Anna aufgrund der katastrophalen Lagerbedingungen am 12. Januar 1945. Aus den Häftlingskarten des KZ Buchenwald geht hervor, dass Moritz4, Alfred Robert und Rudolf5 Nethe am 16. August 1944 in das KZ Buchenwald überstellt wurden. Am 16. September 1944 erfolgte ihre Deportation in das Außenlager des KZ Buchenwald an der Brüllstraße in Bochum, das der Geschossfabrik des Bochumer Vereins angegliedert war. Mit dem Vorrücken der alliierten Truppen wurde das Bochumer Außenlager am 18. März 1945 geräumt. Die 1361 Häftlinge wurden in Viehwaggons zurück nach Buchenwald gebracht, wo sie nach drei Tagen eintrafen. Viele Häftlinge starben bei diesem Transport. Ob Moritz und Rudolf anschließend im KZ Buchenwald umkamen oder auf einem der Todesmärsche nach der Evakuierung des Lagers starben, ist nicht geklärt. Laut der in den Arolsen Archives zu Alfred Nethe vorliegenden Dokumente starb er im April 1945 auf einem Todesmarsch in Bayern und wurde in Schwarzhofen (Kreis Schwandorf) verscharrt.6 An die Familie Nethe erinnern in Köln in der Alteburgerstraße 11 vier Stolpersteine.

Henriette Windesheim lebte vor ihrem Tod im Altenheim des Jüdischen Asyls in der Ottostraße in Köln. Sie starb am 5. Februar 1942 im Jüdischen Krankenhaus, das zum Jüdischen Asyl gehörte.

Am 20. Juli 1942 wurde Rosa Löwenstein gemeinsam mit ihrem Ehemann Gustav und ihrem Sohn Hans Otto per Zug von Köln nach Minsk deportiert. Der Zug mit 1.164 Menschen, darunter 117 Kinder unter zehn Jahren, erreichte den Güterbahnhof Minsk nach vier Tagen am 24. Juli 1942. Unmittelbar nach ihrer Ankunft wurden die Menschen des Kölner Transports mit Lastwagen in das Waldstück Blagowschtschina in der Nähe des Dorfes Maly Trostenez unweit von Minsk gebracht und an bereits vorbereiteten Gruben von Kommandos der Sipo und des SD erschossen und in Massengräbern verscharrt.7 An Rosa, Gustav und Hans Otto Löwenstein erinnern bisher keine Stolpersteine in Köln.

 

Moritz Windesheim, der 1942 gemeinsam mit seiner Tochter Rosa und ihrer Familie in dem zum „Judenhaus“ deklarierten jüdischen Gemeindezentrum in der St. Apernstraße 29/31 wohnte, blieb nach der Deportation seiner gesamten Familie und dem Tod seiner Frau zunächst allein zurück. Am 27. Juli 1942 wurde Moritz mit dem Transport Trier-Koblenz-Köln nach Theresienstadt (Terezín) deportiert.8 Dieser Transport bildet den Abschluss der großen Deportationen älterer Menschen aus dem Rheinland in das nordwestlich von Prag gelegene Ghetto Theresienstadt. Der Zug mit 1.165 Menschen traf am 28. Juli 1942 in Theresienstadt ein. Am 19. September 1942 wurde Moritz Windesheim von Theresienstadt in das Vernichtungslager Treblinka nordöstlich von Warschau deportiert und dort am 21. oder 22. September 1942 ermordet.

An Moritz und Henriette Windesheim erinnern seit dem 30. Mai 2022 zwei Stolpersteine vor ihrem letzten Wohnort in Unna vor dem Haus Klosterstraße 3.

 

Sabine Krämer

 

Quellen und Literatur

Adressbücher der Stadt Unna 1911/12, 1921, 1924, 1927, 1930, Stadtarchiv Unna

Häftlings-Personal-Karte aus dem KZ Buchenwald für Alfred Rudolf Nethe, Arolsen Archives abgerufen 05. Juli 2022 unter https://collections.arolsen-archives.org/en/document/6700954

Heiratsurkunde Clara Windesheim und Isaac Isaak vom 26. Oktober 1875, Stadtarchiv Unna, Standesamt Unna, Heiratsregister 56/1875

Heiratsurkunde Rosa Windesheim und Gustav Löwenstein vom 12. Juni 1914, Stadtarchiv Unna, Standesamt Unna, Heiratsregister 65/1914

Heiratsurkunde Anna Windesheim und Moritz Nethe vom 17. März 1923, Stadtarchiv Unna, Standesamt Unna, Heiratsregister 36/1923

Karte aus der Zentralkartei des Ghettos Theresienstadt für Moritz Windesheim. Arolsen Archives, abgerufen 08. Juli 2022 unter https://collections.arolsen-archives.org/en/document/5134001

Sterbeurkunde Henriette Windesheim vom 6. Februar 1942, Personenstandsregister Standesamt Köln-Ehrenfeld, Sterbefälle 1942, Bd. 1, 163/1942 

Sterbeurkunde Otto Windesheim vom 28. Dezember 1932, Stadtarchiv Unna, Standesamt Unna, Sterberegister 251/1932 (Sterbedatum 26. Oktober 1914)

Todesbescheinigung Anna Nethe geb. Windesheim aus dem KZ Stutthof, Arolsen Archives abgerufen 08. Juli 2022 unter https://collections.arolsen-archives.org/de/document/4580154 

Abrahamsohn, Rolf: Was machen wir, wenn der Krieg zu Ende ist? Essen 2010. 

Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinschaften in Westfalen und Lippe. Die Ortschaften und Territorien im heutigen Regierungsbezirk Arnsberg, hrsg. v. Frank Göttmann, E-Book, Münster 2021, S. 772

Die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus aus Köln, hrsg. v. NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln, Köln 1995, Onlineausgabe, Eintrag zu Hannelore Löwenstein 

Terezinska Pametni Kniha (Theresienstädter Gedenkbuch), hrsg. v. Terezinska Iniciativa, vol. I-II, Praha 1995, vol. III, Prag 2000

Mail von Dr. Florian Grumblies, ZeitZentrum Zivilcourage Hannover vom 22. Juni 2022, mit Informationen zu Hugo und Ida Windesheim

Zum Transport Köln-Minsk vom 20. Juli 1942: https://www.statistik-des-holocaust.de/list_ger_rhl_420720.html, abgerufen 01. Juli 2022

Zur Familie Nethe:
https://spurenimvest.de/2022/02/13/nethe-alfred/ 
https://spurenimvest.de/2022/02/13/nethe-moritz/ 
https://spurenimvest.de/2022/02/13/nethe-rudolf/ 


Fotos der Grabsteine auf dem jüdischen Friedhof Schoneberg unter http://www.felixbierhaus.de/hovestadt/html/juderg-11.html


 

1 Das Grab von Nathan Windesheim befindet sich auf dem jüdischen Friedhof in Unna an der Massener Straße im rechten Gräberfeld, Reihe 4, Grabstelle 62, das von Rosalie im linken Gräberfeld, Reihe 1, Grabstelle 06.

2 Die Tochter Henriette, geboren am 24. November 1845, lebte mit ihrem Mann Jacob Rose in Hovestadt, wo sie am 4. März 1900 starb. Ihr Grab befindet sich auf dem jüdischen Friedhof Schoneberg (Lippetal), wo auch ihre Großeltern Meier und Dora bestattet sind. Die am 1. April 1854 in (Werne-) Stockum geborene Tochter Clara heiratete am 26. Oktober 1875 in Unna den aus (Remscheid-) Lennep stammenden Händler Isaac Jacob Issak und verzog mit ihm nach Lennep. Der Sohn Hugo, geboren am 9. November 1869 in Unna, lebte zunächst in Hemelingen (Bremen) und ab 1901 in Hannover. Von dort wurden er und seine Frau Ida (geb. Rose) am 23. Juli 1942 in das Ghetto Theresienstadt deportiert. Hugo starb am 20. Februar 1943 in Theresienstadt, seine Frau Ida überlebte den Holocaust wanderte im April 1946 in die USA zu ihrer Tochter Agate Beck aus.

3 Abrahamsohn, Rolf: Was machen wir, wenn der Krieg zu Ende ist? Essen 2010, Seite 26.

4 Dokumente zu Moritz Nethe unter https://collections.arolsen-archives.org/en/search?s=Moritz%20Nethe 
Siehe auch https://spurenimvest.de/2022/02/13/nethe-moritz/ 

5 Dokumente zu Rudolf Nethe unter https://collections.arolsen-archives.org/en/search?s=Rudolf%20Nethe 
Siehe auch https://spurenimvest.de/2022/02/13/nethe-rudolf/ 

6 Dokumente zu Alfred Nethe unter https://collections.arolsen-archives.org/de/search?s=Alfred%20Nethe 
Siehe auch https://spurenimvest.de/2022/02/13/nethe-alfred/ 

7 Weitere Informationen zur Tötungsstätte Maly Trostenez unter https://www.dekoder.org/de/gnose/maly-trostenez 

8 Unter http://yadmedia.yadvashem.org/full_pdf/3733298_03011685/0001.pdf ist die Eingangsliste aus Theresienstadt [Yad Vashem Archives, O.64/231] online zugänglich gemacht worden. Moritz Windesheim ist unter der Nummer 1.104 verzeichnet.