Auf Einladung des US-amerikanischen Präsidenten haben vermutlich nur wenige Unnaraner das Weiße Haus in Washington besucht. Manfred Lindenbaum ist einer von ihnen. Am 9. Dezember 2015 entzündete er gemeinsam mit seiner Enkelin Lauren die Menora während eines Chanukka-Empfangs im Weißen Haus. Präsident Barack Obama würdigte damit das besondere Engagement Manfred Lindenbaums für Flüchtlinge.
Manfred Lindenbaum erblickte als jüngstes Kind von Frieda und Otto Lindenbaum am 18. Oktober 1932 im katholischen Krankenhaus in Unna das Licht der Welt. Seine Mutter Frieda war zwar am 8. März 1901 im galizischen Kałusz (Kaluš, heute Westukraine) in der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie geboren worden, aber schon als Kleinkind 1904 mit ihren Eltern Lea und Heinrich Stegmann und ihrer Schwester Itta (Jytte) nach Unna gekommen. Die Familie Stegmann wohnte zunächst in der Königstraße 10 (heute Gerhart-Hauptmann-Straße), wo sie auch ein Herrenkonfektionsgeschäft betrieb. Ab 1905 war die Familie in der Königstraße 18 ansässig. Dort wurde Friedas Schwester Anna am 17. Dezember 1905 geboren. Nach dem frühen Tod Lea Stegmanns am 19. Februar 1920 zog Heinrich Stegmann mit seinen Töchtern in die Hertinger Straße 20 (heute Nr. 26). Dort führte er auch sein Geschäft weiter. Die älteste Tochter Itta zog im Mai 1921 zu ihrem Ehemann Simon Bienstock nach Gelsenkirchen.
Auch Manfreds Vater, Otto Lindenbaum, stammte aus dem Bezirk Kałusz in Galizien. Er kam am 18. März 1892 in Holyn (Golin) bei Dolina zu Welt und gelangte bereits 1896 als Kind in das Deutsche Reich.2 Am 3. Januar 1923 zog er von Hannover kommend zur Familie Stegmann nach Unna in die Hertinger Straße.
Seit Beginn der 1880er Jahre zwangen antijüdische Pogrome und zunehmende Verarmung zehntausende jüdische Familien ihre Heimat in Osteuropa zu verlassen. Als die Kämpfe des Ersten Weltkrieges besonders in den jüdischen Siedlungsgebieten im historischen Polen, zu jener Zeit Staatsgebiet Russlands, Österreich-Ungarns und Deutschlands, wüteten, kam es zu einer erneuten Fluchtwelle in das Deutsche Reich. Der Großteil der jüdischen Siedlungsgebiete fiel nach dem Ersten Weltkrieg an den wiedergeborenen polnischen Staat. Die Familien Stegmann und Lindenbaum wurden daher zu polnischen Staatsbürgern. Sie gehörten wie die Familien Penner und Saal zur Gruppe der „Ostjuden“. Die gemeinsame Herkunft verband die Familien. Ihre Wohnungen und Geschäfte in Unna lagen in unmittelbarer Nähe zueinander. Als Otto Lindenbaum und Frieda Stegmann am 31. Januar 1923 heirateten, traten Abraham Saal und Chaim Penner als Trauzeugen auf.
Im Januar 1923 übernahm Otto Lindenbaum das Herrenbekleidungsgeschäft seines Schwiegervaters Heinrich Stegmann in der Hertinger Straße 20 (heute Nr. 26). Ebenso besuchte er Kunden mit seinen Waren zu Hause, während seine Frau das Ladengeschäft führte. Ab Februar 1926 betrieb Otto Lindenbaum sein Geschäft im Haus Massener Straße 3.
Das erste Kind der Lindenbaums, ihre Tochter Ruth, wurde am 8. Juli 1924 geboren. Als im Dezember 1927 Anna, die jüngere Schwester Frieda Lindenbaums, Salomon Birnbach heiratete und mit ihm eine Familie gründete, wurden die Verhältnisse in der Hertinger Straße zu eng und die Lindenbaums zogen in eine Wohnung über ihrem Geschäft in der Massener Straße 3. Dort wurde am 24. Juli 1930 ihr Sohn Siegfried geboren. Manfred folgte am 18. Oktober 1932.
Ruth Lindenbaum wurde in die Evangelische Mädchenschule (heute Nicolaischule) eingeschult und besuchte ab Ostern 1935 das Städtisches Oberlyzeum Unna (heute Katharinenschule) in der Bornekampstraße. Im gleichen Jahr wurde Friedrich Mayweg, ein überzeugter NS-Anhänger und Mitglied der NSDAP, als Direktor der Schule eingesetzt. Die Schulchronik berichtet von zahlreichen Schulveranstaltungen, Lehrgängen und Ausflügen im Sinne der NS-Ideologie. Die HJ erhielt zunehmend Einfluss auf das Schulleben.
Die jüdischen Schülerinnen wurden brutal ausgegrenzt. Wurde das Lyzeum ursprünglich von vielen jüdischen Mädchen besucht, so nahm ihre Zahl unter der NS-Herrschaft immer weiter ab. Nachdem die Schwestern Eva Wolff und Alice-Dina Wolff die Schule im Juni und Juli 1937 verlassen hatten, war Ruth Lindenbaum die letzte jüdische Schülerin des Lyzeums. Dass auch sie das Lyzeum verlassen wollte, ist dem Schülerinnenverzeichnis zu entnehmen. Nach einer zurückgenommenen Abmeldung bereits vom Oktober 1937 verließ sie die Schule Ostern 1938 – trotz guter Noten.3
Manfred erzählte 2010 in einem Interview,4 dass seine Geschwister zunächst viele christliche Freunde gehabt hätten, besonders seine Schwester Ruth sei in ihrer Schulklasse sehr beliebt gewesen. Nach der Machtübernahme der NSDAP am 30. Januar 1933 wären seine Eltern gezwungen worden, ihr Geschäft mit einem „J“ als jüdisches Geschäft zu kennzeichnen. Daraufhin hätten sich die Freunde mehr und mehr zurückgezogen.
Siegfried Lindenbaum wurde gemeinsam mit seinem besten Freund Herbert Penner in die Herderschule (an der Herderstraße) eingeschult. Siegfried Lindenbaum berichtete 1992, wie der Schulunterricht zu NS-Propagandazwecken genutzt, die Juden mit Ausländern gleichgesetzt und als Feinde des Deutschen Reiches an den Pranger gestellt wurden. Die Mitschüler ließen ihn und Herbert deutlich spüren, dass sie als Juden nicht willkommen seien. „Wirklich angenehme Erinnerungen habe ich noch an die Einschulung. Ich denke dabei an die Zuckertüte und an den neuen Schulranzen. Das zweite und dritte Schuljahr waren dann aber auch schon zu einer Qual geworden. Man ließ uns zwei jüdische Schüler spüren, daß wir unerwünscht waren. Wir wurden auf dem Weg von und zur Schule gehänselt und geärgert. Das Schlimmste war, von älteren und kräftigeren Schülern in einen mit Brennesseln zugewachsenen Graben geworfen zu werden.5 Frieda Lindenbaum hatte den Mut, sich aufgrund dieses Angriffes an den Klassenlehrer zu wenden, der jedoch versicherte, nichts für Siegfried tun zu können.6
Da die Lindenbaums Angst vor weiteren antisemitischen Übergriffen hatten, wurde Manfred gar nicht erst eingeschult. Er erinnert sich, dass der jüdische Lehrer und Prediger Jacobs ihm etwas Unterricht erteilte. Otto und Frieda Lindenbaum erkannten die Zeichen der Zeit richtig. Sie wollten fliehen und sich und ihre Kinder in Sicherheit bringen. Doch die von der NS-Führung initiierten Boykottmaßnahmen gegen jüdische Geschäfte hatte auch sie in die Mittellosigkeit getrieben. Da weder die finanziellen Mittel für eine Flucht vorhanden waren, noch wohlhabende Verwandte im Ausland lebten, die für die Familie hätten bürgen können, blieben die Lindenbaums.7
Am 27. Oktober 1938 erhielten Otto und Frieda Lindenbaum und ihre Kinder einen Ausweisungsbefehl aus dem Deutschen Reich. In dieser als „Polenaktion“ bezeichneten Massenabschiebung wurden reichsweit bis zu 17.000 Menschen polnisch-jüdischer Herkunft – sogenannte Ostjuden - gezwungen innerhalb weniger Stunden Deutschland zu verlassen.
Manfred erinnert sich, dass sein Vater an diesem Tag Rat bei ihrem einzigen verbliebenen christlichen Freund suchte, aber auch er fand keinen Ausweg. So meldeten sich Lindenbaums am folgenden Tag gemeinsam mit ihrem blinden Großvater Heinrich Stegmann und den Familien Penner, Saal und Birnbach bei der Polizeiwache in Unna. Die Familien wurden gezwungen, abgesehen von einem Gepäckstück und zehn Reichsmark, alles in Unna zurückzulassen, ihr Besitz wurde beschlagnahmt. Sie wurden mit einem Bus zu einem Bahnhof nach Dortmund gebracht und am selben Abend mit dem Zug in den deutsch-polnischen Grenzort Neu-Bentschen transportiert. Von dort wurden sie gewaltsam über die polnische Grenze getrieben. Die polnischen Behörden verweigerten den etwa 9.000, über die Grenze getriebenen Menschen die Weiterreise ins polnische Inland. So entstand im polnischen Grenzort Zbąszyń (dt. Bentschen) ein großes Flüchtlingslager, in dem katastrophale Bedingungen herrschten.8
Manfred Lindenbaum, Interview vom 16. Oktober 2010, United States Holocaust Memorial Museum9
In Zbąszyń wurden die vertriebenen Menschen in einer Liste erfasst, durch die wir einen Eindruck von der Situation der Familie Lindenbaum erhalten. In dieser Liste tauchen Otto und Frieda Lindenbaum mit ihren jiddischen Vornamen auf, also als Osjasz und Freide Lindenbaum. Sowohl Frieda als auch Otto hatten keinerlei polnische Sprachkenntnisse, auch keine Verwandten in Polen, die ihnen Zuflucht hätten gewähren können und keine finanziellen Mittel zur Flucht. Sie gaben an nach Palästina ausreisen zu wollen, wohin der Vater Ottos, Salomon Lindenbaum, geflohen war. Sie lebten mit ihren drei Kindern in Zbąszyń in der 17 Stycznia (Straße des 17. Januar) Nr. 2. Diese Adresse war der Standort einer alten, ausgebrannten Mühle, in der hunderte Menschen unter primitivsten Bedingungen ihr Dasein fristen mussten. Auch Anna Birnbach, die jüngere Schwester Frieda Lindenbaums, lebte mit ihrer Familie in dieser Mühle.
In Unna sollen sich Personen an dem persönlichen Eigentum der Lindenbaums, das sie in ihrer Wohnung zurücklassen mussten, bereichert haben. Laut Zeugenaussagen wurde das Geschäft der Familie in der Pogromnacht geplündert: „Am 9. November 1938 war ich zufällig auf der Massener Straße in Unna und stellte vor dem Geschäft Lindenbaum eine Menschenansammlung fest. Da ich die Familie gut kannte, wollte ich mich überzeugen, was dort geschehen war. Ich sah, daß die Schaufensterscheibe mit Teer beschmiert und zertrümmert war. Die Ladentür war gleichfalls zerstört und stand auf. Ich bemerkte ferner, daß Zivilpersonen aus dem Ladenlokal Textilwaren fortschafften. Es war eine regelrechte Plünderung.“10 Der verbliebene Besitz der Lindenbaums wurde zunächst von Bücherrevisor Dr. Recker und später von Rechtsanwalt Adolf Herdieckerhoff als Treuhänder verwaltet. Letztlich wurde er im Lokal Wittler öffentlich meistbietend versteigert.11
Jüdische Hilfsorganisationen versuchten die Menschen in Zbąszyń mit dem Nötigsten zu versorgen. Der Polish Jewish Refugee Fund bemühte sich jüdische Kinder aus Zbąszyń mit sogenannten Kindertransporten nach Großbritannien zu holen. Um wenigstens ihre Kinder in Sicherheit zu bringen, registrierten Otto und Frieda Lindenbaum ihre Kinder auf der Warteliste für diese Kindertransporte. Als sich im Juli 1939 die Gerüchte über einen drohenden deutschen Einmarsch nach Polen verdichteten, entschieden sich die Lindenbaums zur Flucht nach Grodno (heute Hrodna, Belarus) in der polnisch-sowjetischen Grenzregion. Während die Familie am Bahnsteig auf den Zug nach Grodno wartete, trat ein Vertreter des Kindertransportkomitees an sie heran und teilte ihnen mit, dass die Kinder nicht in den Zug steigen sollten, weil sie einen Platz für den nächsten Kindertransport bekommen hätten. So blieben Otto und Frieda Lindenbaum nur wenige Minuten um die vermutlich schwerste Entscheidung ihres Lebens zu treffen. Um ihre Rettung zu ermöglichen, entschieden sie sich ihre Kinder, die gerade 6, 8 und 14 Jahre alt waren, zurückzulassen und allein nach Grodno zu fahren.12
Manfred, Siegfried und Ruth Lindenbaum wurden über Warschau zum polnischen Ostseehafen Gdynia gebracht. Der polnische Dampfer Warszawa erreichte am 29. August 1939 London, unter den rund 70 Kindern an Bord waren auch Manfred und Siegfried. Ruth hatte auf diesem Schiff keinen Platz gefunden und sollte mit dem nächsten Transport kommen. Der deutsche Überfall auf Polen am 1. September 1939 machte dies unmöglich. Mit Unterstützung einer Hilfsorganisation fand Ruth ihre Eltern und folgte ihnen nach Grodno.
In Großbritannien wurden die beiden Brüder voneinander getrennt. Siegfried lebte zunächst bei einer jüdischen Familie. Als diese kriegsbedingt evakuiert wurde, lebte er in einem Jungenheim für Kindertransportflüchtlinge in Ely (Cambridgeshire). Während Siegfried in dieser Zeit weitgehend gute Erfahrungen machte, hat Manfred seine ersten Jahre in England in sehr schlechter Erinnerung.
Der gerade siebenjährige Manfred litt sehr unter der Trennung von seinen Eltern und seiner Schwester. Er war sehr wütend auf seine Eltern und konnte Ihnen nicht verzeihen, dass sie ihn - in seinen Augen - verlassen hatten. Durch seine Aggressivität geriet er immer wieder in Konflikt mit den christlichen Gastfamilien, bei denen er untergebracht war. Daher wurde er von einer Familie zur nächsten geschoben, bis ihn eine Familie aufnahm, bei der er drei Jahre blieb. Etwas hat Manfred Lindenbaum aus diesen schwierigen Jahren mitgenommen, dass seine Begegnung mit seinen Mitmenschen nachhaltig prägte: Die Erfahrung, dass eine kleine Geste der menschlichen Zugewandtheit für einen Menschen in Not entscheidend sein kann. Diese Gesten gaben ihm Hoffnung und Kraft diese schweren Jahre zu überleben. Diese Erfahrungen motivierten ihn, sich auch noch Jahrzehnte später intensiv in der Flüchtlingshilfe zu engagieren.13
In England blieben Siegfried und Manfred durch Briefe in Kontakt mit ihren Eltern und ihrer Schwester in Grodno, das seit 1919 zum wiedererstandenen Polen gehörte. Am 17. September 1939 begann die sowjetische Okkupation Ostpolens, die im geheimen Zusatzprotokoll zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt vereinbart worden war. Am 22. September 1939 erreichten die sowjetischen Truppen Grodno, das am 2. November 1939 in die Belarussische Sowjetrepublik eingegliedert wurde. Briefe, die Otto, Frieda und Ruth Lindenbaum nach England und an Verwandte in Palästina schickten, sind erhalten geblieben.14 Die Briefe sind geprägt von großer Sorge um die Kinder und der Hoffnung auf ein Wiedersehen.
Trotz ihrer eigenen ausweglosen Situation versuchte besonders Frieda Lindenbaum ihren Kindern und auch den nach Palästina geflohenen Verwandten Mut zu schenken. Über die Lebenssituation der Lindenbaums in Grodno erfahren wir nur wenig. Sie bewohnten gemeinsam einen Raum. Otto arbeitete als Nachtwächter und Frieda reinigte im selben Unternehmen die Büroräume und erledigte Botengänge. Ruth ging wieder zur Schule und machte große Fortschritte. Während es ihr schnell gelang sich russische und englische Sprachkenntnisse anzueignen, hatten Otto und Frieda Probleme mit dem Russischen. Oft waren die Briefe aufgrund des Krieges Monate unterwegs oder gingen verloren. Im Januar 1941 brach der Briefverkehr von Manfred und Siegfried zu ihrer Familie ab.
Am 22. Juni 1941 begann der deutsche Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion. Am 23. Juni 1941 besetzte die Deutsche Wehrmacht Grodno. Eine Woche später wurden die Jüdinnen und Juden Grodnos gezwungen einen gelben Stern an ihrer Kleidung zu tragen und ihre Wohnungen mit einem Davidstern zu kennzeichnen. Es folgte ihre Registrierung und Rekrutierung zur Zwangsarbeit. Im November 1941 wurden zwei Ghettos in Grodno geschaffen, in denen um die 25.000 jüdische Menschen auf engstem Raum zusammengepfercht wurden. Viele Menschen starben an Seuchen, Hunger und Entkräftung oder fielen den Gewaltaktionen der SS zum Opfer. Ab November 1942 begann die schrittweise Liquidierung der Ghettos, die bis zum März 1943 anhielt. Die Menschen wurden in die Vernichtungslager Treblinka oder Auschwitz deportiert, wo fast alle ermordet wurden. Es ist bisher nicht geklärt, wann und wo Otto, Frieda und Ruth Lindenbaum starben. Sie überlebten den Holocaust nicht.15
Die Kinder Manfred und Siegfried blieben allein in einem fremden Land, ohne etwas über das Schicksaal ihrer Familie zu wissen. Erst 1944 erfuhr Itta (Jytte) Bienstock, die Schwester Frieda Lindenbaums, dass ihre Neffen allein in England leben. Itta Bienstock war 1921 mit ihrem Mann Simon Bienstock (geb. am 12. Dezember 1899 in Weldzirz, heute Westurkraine) von Unna nach Gelsenkirchen gezogen.16 Da das Paar kinderlos blieb, bestand auch nach dem Umzug reger Kontakt zu den Neffen und Nichten in Unna.
Simon und Itta Bienstock waren im Dezember 1938 zunächst in die Niederlande und dann nach Frankreich geflohen. Unter dem französischen Vichy-Regime war Itta vom Mai 1940 bis Januar 1942 in verschiedenen südfranzösischen Lagern interniert: Saint-Cyprien-Plage, Camp d'Agde und Camp Rivesaltes bei Perpignan. Auch Ihr Mann Simon Bienstock durchlief verschiedene Internierungslager: von Mai 1940 bis Januar 1941 Ax les Termes, bis März 1941 Agde, bis April 1941 Rivesaltes und bis Januar 1942 Bompard in Marseille. Als ehemaligem Frontkämpfer des Ersten Weltkrieges wurde es ihm gestattet Ende Januar 1942 gemeinsam mit seiner Frau in die Vereinigten Staaten emigrieren.17
Bienstocks ließen sich in Farmingdale, New Jersey, nieder, wo sie eine Hühnerfarm betrieben. Ihre Bemühungen, Siegfried und Manfred in die USA zu holen, blieben kriegsbedingt zunächst ohne Erfolg. Erst im Juli 1946 trafen die beiden in Farmingdale ein. Die ersten Monate verbrachten sie, krank und geschwächt durch die jahrelangen Entbehrungen, im Krankenhaus.18
Manfred, der in Deutschland keine Schule besuchen konnte und dann verfolgungsbedingt nur wenig Unterricht erhalten hatte, arbeitete auf der Hühnerfarm seiner Tante Itta. Simon und Itta Bienstock kehrten 1955 nach Gelsenkirchen zurück. Manfred folgte ihnen 1958, konnte aber in der Bundesrepublik nicht Fuß fassen und zog wieder nach New Yersey, wo er in der Immobilienbranche tätig wurde. Mit seiner Frau Annabel hat er drei Kinder und lebt in New Jersey. Auch Simon und Itta Bienstock lebten spätestens 1961 wieder in den USA.
Siegfried besuchte für ein Jahr die Highschool und studierte anschließend Chemie an der Rutgers University in New Brunswick. Mit seiner Frau Loraine bekam er drei Kinder. Siegfried wurde ein renommierter Wissenschaftler, arbeitete im Oak Ridge National Laboratory in Tennessee und als Professor an der University of Kansas in Lawrence. Sein Forschungsinteresse galt der pharmazeutischen Analytik und Technologie. 1990 wurde Siegfried für ein Jahr auf die nach dem Pharmazeuten Friedrich Merz benannten Stiftungsprofessur der Universität Frankfurt am Main berufen. Siegfried Lindenbaum starb am 11. März 1993 in Kansas.
Noch 1992 stand Siegfried Lindenbaum in Kontakt mit Bernt Cnyrim, der die jüdische Geschichte Unnas erforschte. Dabei erfuhr er, dass seine Schwester Ruth angeblich 1949 in Unna mit ihrem Kind gesehen wurde. Diese Nachricht versetzte die Familie in Aufruhr und ließ neue Hoffnung keimen, dass Ruth die Shoa überlebt hatte. Manfred besuchte daraufhin im Juni 1993 Unna um dieser Spur auf den Grund zu gehen. Die Suche blieb erfolglos. Da auf dem Gedenkstein der Stadt Unna am Käthe-Kollwitz-Ring bisher nicht auch Ruth gedacht wurde, veranlasste Manfred den Nachtrag ihres Namens.19
Das Gefühl, rechtfertigen zu müssen, dass er überlebt hat, während seine Schwester ermordet wurde, begleitete Manfred sein Leben lang. Er engagierte sich in der Gewalt- und Mobbingprävention, für das Gedenken an den Holocaust und ganz besonders aber in der Flüchtlingshilfe. Im Sommer 2014 begab sich Manfred zusammen mit seiner großen Familie auf die „Lindenbaum Odyssee“, auf der sie gemeinsam die Stationen seiner Flucht und Vertreibung in umgekehrter Reihenfolge mit dem Fahrrad erkundeten. Manfred widmete diese Reise dem Gedenken an seine Schwester Ruth und der Unterstützung von Flüchtlingskindern in Vertriebenenlagern im Tschad. Für sie sammelte er Spenden in Zusammenarbeit mit HIAS, einer globalen jüdischen Organisation, die Flüchtlingen auf der ganzen Welt hilft. Seit dem Chanukka-Empfang im Weißen Haus bei Präsident Barack Obama hat sich die Politik der USA gegenüber Flüchtlingen massiv verschärft. Manfred setzt sich weiterhin für Flüchtlingskinder ein, insbesondere für diejenigen, die an der mexikanischen Grenze von ihren Eltern getrennt wurden. Er sagt: „Ich fühle mit ihnen, denn ich war auch einmal in dieser Situation.“20
Am 4. Mai 2011 wurden zum Gedenken an das Schicksal der Familie Lindenbaum vor ihrem ehemaligen Wohnhaus an der Massener Straße 3 in Unna fünf „Stolpersteine“ verlegt.
Sabine Krämer
Abgangszeugnis des Städtischen Oberlyzeums Unna für Ruth Lindenbaum vom 25.03.1938, Stadtarchiv Unna
Brief von Frieda Lindenbaum an ihre Kinder Manfred und Siegfried in England, Grodno 08.01.1941. Original Familie Lindenbaum
Brief von Frieda, Otto und Ruth Lindenbaum an Isi (Yitzchak Lindenbaum, ein Bruder Ottos) in Tel Aviv, Grodno 22.05.1940. Original Familie Lindenbaum
Brief von Siegfried Lindenbaum an Bernt Cnyrim, 13.09.1992. Kopie Familie Lindenbaum
Bürgerrollen Otto, Frieda, Ruth, Siegfried, Manfred Lindenbaum, Stadtarchiv Unna
Bürgerrollen Heinrich, Lea, Itta, Frieda, Anna Stegmann, Stadtarchiv Unna
Eintrag zu Otto (Ozjasz) und Frieda (Freide) Lindenbaum auf der „Bentschenliste“, S. 283, abrufbar unter https://zbaszyn1938.pl/uploads/documents/Lista_Deportowanych/Split/GK_166_1141_Cala_lista%20238.pdf
Geburtsurkunde Ruth Lindenbaum, Geburtsregister 238/1924, Stadtarchiv Unna
Geburtsurkunde Siegfried Lindenbaum, Geburtsregister 220/1930, Stadtarchiv Unna
Geburtsurkunde Manfred Lindenbaum, Geburtsregister 254/1932, Stadtarchiv Unna
Heiratsurkunde Otto und Frieda Lindenbaum Heiratsregister 14 /1923, Stadtarchiv Unna
Interview mit Manfred Lindenbaum vom 16.10.2010, United States Holocaust Memorial Museum. https://collections.ushmm.org/search/catalog/irn4221
Interview mit Manfred Lindenbaum vom 22.02.2024, ADL Mountain States Region. https://mountainstates.adl.org/an-interview-with-manfred-manny-lindenbaum-featured-speaker-at-adls-43rd-annual-governors-holocaust-remembrance-program-may-8-at-530-pm/
Kreisarchiv Unna, Wiedergutmachung 11/1302
Landesarchiv NRW Abteilung Westfalen K 204, Regierung Münster, Wiedergutmachungen, Nr. 1668
Landesarchiv NRW Abteilung Westfalen L 001a – Oberfinanzdirektion Münster, Devisenstelle, Nr. 552 Jytte Bienstock
Schülerinnenverzeichnis des Städtischen Oberlyzeums Unna (1938), Stadtarchiv Unna
Bericht von Manfred und Siegfried Lindenbaum, in: Leverton, Bertha; Lowensohn, Shmuel (Ed.): I came alone. Stories of the Kindertransports, Sussex 2000, S. 194-197
Düsberg, Jürgen: Stolpersteine in Unna, 2007-2012, Unna 2012
Franke, Rotraud: Von der Töchterschule zum Mädchengymnasium 1862 bis 1970, Unna 1996, S. 103-125
Juden in Unna: Spuren ihrer Geschichte - eine historische Dokumentation. Bearbeiter: Dieter Fölster; Walter Flick; Bernt Cnyrim, Unna 1993
„Kinder abreisen 17 Uhr 13“. Erinnerungen an Polenaktion und Kindertransporte 1938/39. Online-Ausstellung des Lern- und Gedenkort Jawne Köln. Zur Rettung aus Zbąszyń: https://kindertransport-17uhr13.de/rettung-aus-zbaszyn/
Lindenbaum, Jacob: My Zayda, the Refugee, 28.01.2016. https://hias.org/news/guest-post-my-zayda-the-refugee/
Lindenbaum, Manfred: They Are Us, in: “For You Were Strangers in the Land of Egypt”. Our Responsibility to Refugees in the 21st Century (The Peoplehood Papers 19). Ravid, Shlomi (Ed.), Israel 2017, S. 13-15. https://ejewishphilanthropy.com/tag/peoplehood-papers-19/
Lindenbaum, Siegfried: Personal Reflections of a Kindertransport Survivor, 1992
Schriftliche Auskunft zu Simon und Itta Bienstock von Dr. Sabine Kittel, Institut für Stadtgeschichte Gelsenkirchen, 13.09.2019
Zum Chanukka-Empfang im Weißen Haus mit Manfred Lindenbaum https://hias.org/news/hanukkah-lights-up-the-white-house/
Video mit Manfred Lindenbaum zur Flüchtlingspolitik Donald Trumps https://www.democracynow.org/2016/9/21/holocaust_survivor_trump_jrs_skittles_comment
1 Lindenbaum, Manfred: They Are Us, in: "For You Were Strangers in the Land of Egypt". Our Responsibility to Refugees in the 21st Century (The Peoplehood Papers 19), Ravid, Shlomi (Ed.). Israel 2017, S. 13-15. Originalsprache Englisch, übersetzt von S. Krämer.
2 Die Angabe zum Jahr der Einwanderung in das Deutsche Reich findet sich bei dem Eintrag zu Otto (Osjasz) Lindenbaum auf der „Bentschenliste“, S. 283, abrufbar unter https://zbaszyn1938.pl/uploads/documents/Lista_Deportowanych/Split/GK_166_1141_Cala_lista%20238.pdf
3 Franke, Rotraud: Von der Töchterschule zum Mädchengymnasium 1862 bis 1970. Unna 1996, S. 103-125.
4 Interview mit Manfred Lindenbaum vom 16.10.2010, United States Holocaust Memorial Museum. https://collections.ushmm.org/search/catalog/irn4221
5 Autobiografische Aufzeichnungen von Siegfried Lindenbaum, 1992 zit. nach: Juden in Unna, S. 176. Die Orthografie der Zitate folgt der des Originals. Siehe auch Brief von Siegfried Lindenbaum an Bernt Cnyrim, 13.09.1992. Original Familie Lindenbaum.
6 Interview mit Manfred Lindenbaum vom 16.10.2010, United States Holocaust Memorial Museum.
7 Ebd.
8 Bericht von Manfred und Siegfried Lindenbaum, in: Leverton, Bertha; Lowensohn, Shmuel (Ed.): I came alone. Stories of the Kindertransports. Sussex 2000, S. 194-197.
9 Interview mit Manfred Lindenbaum vom 16.10.2010, United States Holocaust Memorial Museum. Originalsprache Englisch, übersetzt von S. Krämer.
10 Vernehmung von Frau Petrowitsch am 23.04.1958 im Wiedergutmachungsverfahren der Familie Lindenbaum. Kreisarchiv Unna, Wiedergutmachung 11/1302.
11 Eidesstattliche Versicherung von Adolf Herdieckerhoff vor dem Amtsgericht Unna, 27.03.1958. Kreisarchiv Unna, Wiedergutmachung 11/1302.
12 Interview mit Manfred Lindenbaum vom 16.10.2010, United States Holocaust Memorial Museum. Originalsprache Englisch, übersetzt von S. Krämer.
13 Ebd.
14 Brief von Frieda Lindenbaum an ihre Kinder Manfred und Siegfried in England, Grodno 8.01.1941. Briefe von Frieda, Otto und Ruth Lindenbaum an Isi (Yitzchak Lindenbaum, ein Bruder Ottos) in Tel Aviv, Grodno 5.5.1940 und 22.05 1940. Privatbesitz Familie Lindenbaum.
15 Klarsfeld, Serge (Ed.): Documents concerning the destruction of the Jews of Grodno 1941–1944. Vol. 1-6. New York / Paris 1987–1992.
16 Das Paar wohnte ab Januar 1921 in der Elisabethstr. 8, ab ca. 1926 in der Florastr. 100; nach der Pogromnacht 1938 Umzug in die Hildegardstr. 21, zu Familie Nußbaum. Zwangsweise Auflösung der Wohnung in der Florastraße. Schriftliche Auskunft von Dr. Sabine Kittel, Institut für Stadtgeschichte Gelsenkirchen, 13.09.2019.
17 Landesarchiv NRW Abteilung Westfalen K 204, Regierung Münster, Wiedergutmachungen, Nr. 1668.
18 Schreiben von Simon Bienstock an das Amt für Wiedergutmachung Unna vom 30.01.1959, Kreisarchiv Unna, Wiedergutmachung 11/1302.
19 Düsberg, Jürgen: Stolpersteine in Unna, 2007-2012, Unna 2012.
20 Interview mit Manfred Lindenbaum vom 22.02.2024, ADL Mountain States Region. Originalsprache Englisch, übersetzt von S. Krämer. Siehe auch Lindenbaum, Jacob: My Zayda, the Refugee, 28.01.2016. https://hias.org/news/guest-post-my-zayda-the-refugee/
21 Interview mit Manfred Lindenbaum vom 16.10.2010, United States Holocaust Memorial Museum. Originalsprache Englisch, übersetzt von S. Krämer.